Behauptung: Menschen machen Fehler – im Atomkraftwerk ist das fatal.
Die EWS behaupten (Originalgrund)
Ventil falsch bedient, Warnsignal übersehen, Schalter vergessen, Kommandos missverstanden, falsch reagiert – es gibt Dutzende von Fällen, bei denen nicht die Technik, sondern der Mensch für hochgefährliche Situationen im Atomkraftwerk verantwortlich ist. Das Risiko Mensch ist nicht kalkulierbar.
Ausgerechnet der Mensch, die Betriebsmannschaft, soll aber im Falle eines Störfalls wichtige, von der normalen Betriebsweise abweichende Notfallmaßnahmen durchführen, um eine Kernschmelze noch zu verhindern. Atomkraft verlangt fehlerfreie Menschen. Die gibt es aber nicht – schon gar nicht in extremen Stress-Situationen wie bei einem Störfall im Atomkraftwerk.
„Weiterführende Informationen” der EWS
- http://www.bbu-online.de/stellungnahme/bbustellungnahmen/05.11.htm
Stellungsnahme des Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) zur geplanten Änderung des Atomgesetzes 2001, mit Beschreibung der „Accident-Management“-Maßnahmen (Punkt 4) - http://www.gruene-niedersachsen.de/cms/presse/dokbin/150/150376.gutach…
Grüne Niedersachsen: Gutachten „Schwere Unfälle im AKW Esenshamm und ihre Folgen“ mit Beispielen für mangelhafte Sicherheitskultur - http://www.ausgestrahlt.de/hintergrundinfos/sicherheit.html
.ausgestrahlt-Hintergrundinformationen zur Sicherheit von Atomkraftwerken - http://www.greenpeace.de/fileadmin/gpd/user_upload/090326_Hintergrundp…pdf
Greenpeace-Dossier über den Kernschmelzunfall von Harrisburg 1979
„Quellen” der EWS
Richtig ist …
Keine Energietechnik reagiert so verzeihend auf menschliche Fehler wie die Kernenergie. Das beste Beispiel ist das Kernkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg, wo 1979 ein Kühlmittelverluststörfall stundenlang unentdeckt blieb und zur Kernschmelze führte. Trotz eklatanter Fehlbedienungen, Missinterpretation von Anzeigen und vorangegangener Schlampereien bei der Wartung war der Fall sehr gut beherrschbar: Binnen weniger Stunden liefen die Kühlpumpen wieder, Radioaktivität wurde praktisch vollständig zurückgehalten und nach einem Monat war der Reaktor im „Cold Shutdown”. Totalverlust für den Betreiber, gesundheitliche Beeinträchtigungen der umliegenden Bevölkerung gab es jedoch nicht.
Solche Vorkommnisse in einer Chemiefabrik können weit schlimmere Folgen nach sich ziehen. Auch ein größerer Konstruktionsfehler in einem Stadion kann hohe Opferzahlen nach sich ziehen. Fehler sind gerade bei Kernkraftwerken fest einkalkuliert, insbesondere durch die passiven Barrieren, deren Wirksamkeit physikalisch bedingt immer garantiert ist. Neuere Reaktorkonzepte sehen sogar vor, dass der Reaktor stets passiv in einen sicheren Zustand fährt – ohne menschliches Zutun.
Ja, Three Mile Island (TMI) hat gezeigt, dass eine Reaktoranlage auch bei grober Missachtung von Sicherheitsvorschriften und erheblichen Abweichungen vom Normbetrieb in der Lage ist, radioaktives Material sicher einzuschließen. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich war während des Unfallgeschehens lange Zeit nicht absehabr, welche Richtung der Unfall nehmen würde. Beispielsweise ist damals in der Konzeption der Anlage nur unzureichend berücksichtigt worden, dass ein überhitzter Reaktorkern zur Bildung von Wasserstoff-Gas führen und welche Auswirkung dieser Wasserstoff auf die Kühlung der Kerns haben würde. Entsprechend unvorbereitet und unbeholfen hat die Betriebsmannschaft dann auch darauf reagiert. Klar, die Gefahr einer Knallgas-Detonation ist überschätzt worden. Aber das wusste man erst im Nachhinein. Theoretisch hätte es, insbesondere wenn die Kernschmelze weiter fortgeschritten wäre, auch zu größeren Wasserstoff-Mengen und – sofern der Wasserstoff, wie bereits am ersten Unfalltag, in das Containment entwichen wäre – entsprechend auch einer größeren Explosion kommen können. Natürlich könnte man jetzt wieder erwidern, dass eine etwaige Detonation dem Containment gar nichts angehabt hätte. Letztlich weiß man das aber nicht und die eigentliche Message ist klar: Es ist während dieses Unfalls sehr viel passiert, worauf die Betriebsmannschaft, sowie die anderen Beteiligten und Experten in der notwendigen Form nicht vorbereitet waren.
Auch sollte nicht vergessen werden, dass die Kernschmelze auf TMI maßgeblich durch das Eingreifen der Operateure verursacht worden ist, indem sie – aus Angst vor Wasserschlägen – die Hauptkühlmittelpumpen längere Zeit außer Betrieb genommen hatten. Man kann jetzt zwar freudig verkünden: Es ist ja trotzdem nichts passiert. Man kann genauso aber auch sagen: Es ist sehr viel passiert, obwohl die Technik angeblich so fehlerverzeihend gewesen sein soll.
Gibt es noch andere Quellen, außer die der WNA, auch in Bezug auf die Studie des „Department of Epidemiology der University of North Carolina“?
Ich meinte diese Studie:
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1469835/pdf/envhper00314-0052.pdf
Da ich es nun zum zweiten Mal las „Kerntechnik … reagiert so verzeihend auf menschliche Fehler“. Das würde ich umformulieren, denn so „unberechenbar“ sind Menschen nicht. Und was man tatsächlich macht ist, dass man den menschlichen Faktor berücksichtig, und ihn wenn möglich ausschaltet – heißt: Automatisierung. Zu diesem Zweck wurden auch Betriebs- und Notfallhandbücher entworfen, in denen Prozeduren vorgeschrieben sind – also insbesondere auch für alle möglichen antizipierten Stör- und Unfälle. In keiner Technologie sonst (außer vielleicht der Raumfahrt) hat man sich darüber so detailliert einen Kopf gemacht. D.h. der Operator muss bei einem Störfall nicht erstmal Thermohydraulik- und Neutroniksimulationen machen, auf Basis derer er dann Entscheidungen trifft.
Lediglich ganz vertraut man der Technik auch nicht, da sie nicht ethisch entscheiden kann, und in komplexen Schadensfällen und bei gegebenen Informationsverfügbarkeiten eventuell intuitiv besser entscheidet als eine Maschine, die u.U. durch einen Störfall selbst in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Ehrlich gesagt machen Ärzte mehr Schaden – ungeschoren.